0.193.501
Liechtensteinisches Landesgesetzblatt
Jahrgang 1950 Nr. 6/3 ausgegeben am 10. März 1950
Statut des Internationalen Gerichtshofs
Art. 1
Der durch die Satzung der Vereinigten Nationen als richterliches Hauptorgan der Organisation geschaffene Internationale Gerichtshof soll nach den Bestimmungen des vorliegenden Statuts errichtet werden und seine Tätigkeit ausüben.
Kapitel I
Organisation des Gerichtshofs
Art. 2
Der Gerichtshof setzt sich zusammen aus unabhängigen Richtern, die ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit aus den die höchste sittliche Achtung geniessenden Personen gewählt werden, welche die nötigen Voraussetzungen zur Ausübung der höchsten richterlichen Ämter in ihrem Lande erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkannter Bedeutung auf dem Gebiete des internationalen Rechts sind.
Art. 3
1) Der Gerichtshof besteht aus fünfzehn Mitgliedern. Er darf nicht mehr als einen Angehörigen des gleichen Staates zählen.
2) Eine Person, die als Angehörige von mehr als einem Staat betrachtet werden kann, gilt im Hinblick hierauf als Angehörige desjenigen Staates, in dem sie gewöhnlich ihre bürgerlichen und politischen Rechte ausübt.
Art. 4
1) Die Mitglieder des Gerichtshofes werden, den nachstehenden Bestimmungen gemäss, durch die Generalversammlung und durch den Sicherheitsrat aus einer von den nationalen Gruppen des Ständigen Schiedshofs aufgestellten Liste gewählt.
2) Was die im ständigen Schiedshof nicht vertretenen Mitglieder der Vereinigten Nationen anbelangt, so werden die Kandidaten durch die von ihren Regierungen bezeichneten nationalen Gruppen aufgestellt. Diese Gruppen werden unter den gleichen Bedingungen, wie sie in Art. 44 des Haager Abkommens von 1907 zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle für die Mitglieder des ständigen Schiedshofes vorgesehen sind, bestellt.
3) Fehlt eine besondere Vereinbarung, so wird die Generalversammlung auf Empfehlung des Sicherheitsrats die Bedingungen festsetzen, unter denen ein Staat, der Teilnehmer am Statut des Gerichtshofs ist, ohne Mitglied der Vereinigten Nationen zu sein, an der Wahl der Mitglieder des Gerichtshofs teilnehmen kann.
Art. 5
1) Mindestens drei Monate vor der Wahl ladet der Generalsekretär der Vereinigten Nationen die Mitglieder des Ständigen Schiedshofs, die den Staaten angehören, die Teilnehmer am vorliegenden Statut sind, sowie die gemäss Art. 4 Ziff.2, bezeichneten Mitglieder der nationalen Gruppe ein, innerhalb einer gegebenen Frist durch die nationalen Gruppen Personen in Vorschlag zu bringen, die in der Lage sind, das Amt eines Mitglieds des Gerichtshofs zu versehen.
2) Eine Gruppe darf nicht mehr als vier Personen vorschlagen, worunter höchstens zwei ihrer Staatsangehörigkeit sein dürfen. Die Zahl der vorgeschlagenen Kandidaten darf unter keinen Umständen grösser als die doppelte Zahl der zu besetzenden Sitze sein.
Art. 6
Es wird jeder nationalen Gruppe empfohlen, vor Bezeichnung ihrer Kandidaten den obersten Gerichtshof des Landes sowie die juristischen Fakultäten und Schulen und die sich mit dem Rechtsstudium befassenden nationalen Akademien und Sektionen internationaler Akademien zu Rate zu ziehen.
Art. 7
1) Der Generalsekretär stellt, in alphabetischer Reihenfolge, ein Verzeichnis aller auf diese Weise vorgeschlagenen Personen auf; diese Personen allein sind wählbar, unter Vorbehalt des in Art. 12 Ziff.2, vorgesehenen Falles.
2) Der Generalsekretär unterbreitet dieses Verzeichnis der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat.
Art. 8
Die Generalversammlung und der Sicherheitsrat schreiten getrennt zur Wahl der Mitglieder des Gerichtshofs.
Art. 9
Bei jeder Wahl werden die Wähler darauf achten, dass die Mitglieder des Gerichtshofs die gestellten Bedingungen erfüllen und in ihrer Gesamtheit die Vertretung der hauptsächlichsten Rechtssysteme der Welt sicherstellen.
Art. 10
1) Gewählt sind diejenigen, die das absolute Mehr der Generalversammlung und des Sicherheitsrats auf sich vereinigt haben.
2) Bei der Abstimmung im Sicherheitsrat wird weder bei der Wahl der Richter noch bei der Ernennung der Mitglieder der in Art. 12 vorgesehenen Kommission ein Unterschied zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats gemacht.
3) Sollte die doppelte Wahl der Generalversammlung und des Sicherheitsrats auf mehr als einen Angehörigen eines und desselben Staates fallen, so gilt nur der ältere von ihnen als gewählt.
Art. 11
Bleiben nach der ersten Wahlversammlung noch Sitze frei, so wird auf die gleiche Art und Weise zu einer zweiten und, wenn nötig, zu einer dritten geschritten.
Art. 12
1) Bleiben nach der dritten Wahlversammlung noch Sitze frei, so kann jederzeit, auf das Ansuchen entweder der Generalversammlung oder des Sicherheitsrats, eine Vermittlungskommission von sechs Mitgliedern bestellt werden, von denen drei von der Generalversammlung und drei vom Sicherheitsrat zu ernennen sind, mit dem Auftrag, mit absolutem Mehr für jeden freien Sitz der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat einen Kandidaten vorzuschlagen, über dessen Ernennung Generalversammlung und Sicherheitsrat getrennt entscheiden.
2) Die Vermittlungskommission kann durch einstimmigen Beschluss auf ihre Liste alle diejenigen Personen aufnehmen, welche die gestellten Bedingungen erfüllen, selbst wenn sie nicht auf der in Art. 7 vorgesehenen Liste der Vorgeschlagenen eingetragen sind.
3) Stellt die Vermittlungskommission fest, dass es ihr nicht gelingt, die Wahl sicherzustellen, so werden die schon gewählten Mitglieder des Gerichtshofs innerhalb einer vom Sicherheitsrat festzusetzenden Frist die vakanten Sitze besetzen, indem sie die Wahl unter denjenigen Personen treffen, die entweder in der Generalversammlung oder im Sicherheitsrat Stimmen erhalten habe.
4) Im Falle von Stimmengleichheit unter den Richtern entscheidet die Stimme des ältesten von ihnen.
Art. 13
1) Die Mitglieder des Gerichtshofs sind für einen Zeitraum von neun Jahren gewählt und sind wiederwählbar. Was jedoch die bei der ersten Wahl des Gerichtshofs ernannten Richter betrifft, so endet die Amtsdauer von fünf Richtern nach drei Jahren und die von weitern fünf Richtern nach sechs Jahren.
2) Die Richter, deren Amtsdauer nach Ablauf der oben erwähnten Anfangszeit von drei und sechs Jahren endet, werden vom Generalsekretär unmittelbar nach der ersten Wahl durch das Los bestimmt.
3) Die Mitglieder des Gerichtshofes bleiben im Amt, bis sie ersetzt sind. Einmal ersetzt, erledigen sie noch die Fälle, die ihnen vorher übertragen worden sind.
4) Beim Rücktritt eines Mitgliedes des Gerichtshofs ist das Rücktrittsschreiben an den Präsidenten des Gerichtshofs zur Weiterleitung an den Generalsekretär zu richten. Mit dieser letzteren Anzeige gilt der Sitz als erledigt.
Art. 14
Die Wiederbesetzung erledigter Sitze findet unter Vorbehalt folgender Bestimmung nach dem für die erste Wahl befolgten Verfahren statt: Im Laufe des auf die Erledigung folgenden Monats hat der Generalsekretär die im Art. 5 vorgeschriebene Einladung zu erlassen, und der Zeitpunkt der Wahl wird vom Sicherheitsrat festgesetzt.
Art. 15
Das an Stelle eines Mitgliedes, dessen Mandat noch nicht abgelaufen ist, gewählte Mitglied des Gerichtshofs beendigt die Amtsperiode seines Vorgängers.
Art. 16
1) Die Mitglieder des Gerichtshofs dürfen weder ein politisches noch ein administratives Amt bekleiden, noch sich irgendeiner andern Tätigkeit beruflicher Art widmen.
2) Bestehen Zweifel, so entscheidet der Gerichtshof.
Art. 17
1) Die Mitglieder des Gerichtshofs dürfen weder die Funktionen eines Agenten, noch eines Rechtsbeistandes oder eines Anwaltes in irgendeiner Angelegenheit ausüben.
2) Sie dürfen an der Behandlung keiner Angelegenheit teilnehmen, mit der sie sich früher als Agenten, Rechtsbeistände oder Anwälte einer der Parteien, als Mitglieder eines nationalen oder internationalen Gerichtshofs, einer Untersuchungskommission oder in irgendeiner andern Eigenschaft befasst haben.
3) Bestehen Zweifel, so entscheidet der Gerichtshof.
Art. 18
1) Ein Mitglied des Gerichtshofs kann nur dann seines Amts enthoben werden, wenn es nach der einstimmigen Meinung der übrigen Mitglieder aufgehört hat, die gestellten Bedingungen zu erfüllen.
2) Von dieser Tatsache wird dem Generalsekretär vom Gerichtsschreiber amtliche Mitteilung gemacht.
3) Mit dieser Mitteilung gilt der Sitz als erledigt.
Art. 19
Die Mitglieder des Gerichtshofs geniessen bei der Ausübung ihres Amts die diplomatischen Vorrechte und Immunitäten.
Art. 20
Vor Antritt seines Amts muss jedes Mitglied des Gerichtshofs in öffentlicher Sitzung die feierliche Erklärung abgeben, dass es seine Befugnisse unparteiisch und gewissenhaft ausüben werde.
Art. 21
1) Der Gerichtshof wählt für die Dauer von drei Jahren, seinen Präsidenten und Vizepräsidenten; diese sind wiederwählbar.
2) Er ernennt seinen Gerichtsschreiber und kann für die Ernennung anderer erforderlicher Beamten sorgen.
Art. 22
1) Der Gerichtshof hat seinen Sitz im Haag. Er kann jedoch, wenn er es als wünschenswert erachtet, auch an andern Orten tagen und seine Tätigkeit ausüben.
2) Der Präsident und der Gerichtsschreiber wohnen am Sitz des Gerichtshofs.
Art. 23
1) Der Gerichtshof tagt ständig, ausser in den Gerichtsferien, deren Zeitpunkt und Dauer vom Gerichtshof festgesetzt werden.
2) Die Mitglieder des Gerichtshofs haben Anspruch auf periodischen Urlaub, dessen Zeitpunkt und Dauer vom Gerichtshof unter Berücksichtigung der Entfernung vom Haag zum Wohnsitz der Richter bestimmt werden.
3) Die Mitglieder des Gerichtshofs sind verpflichtet, sich ausser bei Urlaub, bei Verhinderung wegen Krankheit oder wegen einer andern schwerwiegenden Veranlassung, die dem Präsidenten ausreichend zu begründen ist, jederzeit dem Gerichtshof zur Verfügung zu halten.
Art. 24
1) Glaubt ein Mitglied des Gerichtshofs aus besonderen Gründen an der Beurteilung eines Streitfalls nicht teilnehmen zu sollen, so gibt es dem Präsidenten davon Kenntnis.
2) Ist der Präsident der Meinung, dass eines der Mitglieder des Gerichtshofs aus besonderen Gründen bei der Behandlung einer Angelegenheit nicht mitwirken sollte, so macht er ihm davon Mitteilung.
3) Bestehen in einem derartigen Falle Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Mitglied des Gerichtshofs und dem Präsidenten so entscheidet der Gerichtshof.
Art. 25
1) Die im vorliegenden Statut ausdrücklich vorgesehenen Fälle ausgenommen, übt der Gerichtshof seine Befugnisse in Plenarsitzungen aus.
2) Unter der Bedingung, dass die Zahl der Richter, die zur Bildung des Gerichtshofs zur Verfügung stehen, nicht unter elf herabgesetzt werde, kann das Reglement des Gerichtshofs vorsehen, dass je nach den Umständen und der Reihenfolgen nach einer oder mehrere Richter von der Teilnahme befreit werden können.
3) Neun Richter genügen zur Bildung des Gerichtshofs.
Art. 26
1) Der Gerichtshof kann zu jeder Zeit eine oder mehrere, je nach seiner Entscheidung aus drei oder mehr Richtern zusammengesetzten Kammern einsetzen, um bestimmte Arten von Angelegenheiten zu entscheiden, zum Beispiel solche, die sich auf die Arbeit, den Transit und Verkehr beziehen.
2) Der Gerichtshof kann jederzeit eine Kammer zur Entscheidung einer bestimmten Angelegenheit einsetzen. Die Zahl der Richter dieser Kammer wird vom Gerichtshof mit Zustimmung der Parteien festgesetzt.
3) Die in diesem Artikel vorgesehenen Kammern entscheiden eine Angelegenheit, wenn es die Parteien beantragen.
Art. 27
Jedes von einer der in den Art. 26 und 29 vorgesehenen Kammern ausgesprochene Urteil gilt als Urteil des Gerichtshofs.
Art. 28
Die in den Art. 26 und 29 vorgesehenen Kammern können, mit Zustimmung der Parteien, anderswo als im Haag tagen und ihre Tätigkeit ausüben.
Art. 29
Zum Zwecke der raschen Erledigung der Angelegenheiten bestellt der Gerichtshof jährlich eine Kammer von fünf Richtern, die berufen sind, auf Ansuchen der Parteien in abgekürztem Verfahren zu entscheiden. Überdies werden zwei Richter bezeichnet, die einen an der Teilnahme an einer Sitzung verhinderten Richter zu ersetzen hätten.
Art. 30
1) Der Gerichtshof setzt durch ein Reglement fest, in welcher Weise er seine Befugnisse ausübt. Er regelt namentlich sein Verfahren.
2) Das Reglement des Gerichtshofs kann Beisitzer vorsehen, die an den Sitzungen des Gerichtshofs oder seiner Kammern ohne Stimmrecht teilnehmen.
Art. 31
1) Richter, welche die Staatsangehörigkeit einer der Parteien besitzen, behalten Sitz und Stimme bei Behandlung der dem Gerichtshof vorgelegten Angelegenheit.
2) Hat eine der Parteien einen ihrer Staatsangehörigen im Gerichtshof, so kann jede andere Partei nach ihrer Wahl eine Person bezeichnen, die in der Eigenschaft eines Richters mitwirkt und die vorzugsweise aus dem Kreise derjenigen Personen zu nehmen ist, die gemäss den Bestimmungen der Art. 4 und 5 in Vorschlag gekommen sind.
3) Hat keine der Parteien einen ihrer Staatsangehörigen im Gerichtshof, so kann jede Partei die Bezeichnung eines Richters auf die im vorhergehenden Absatz bezeichnete Art und Weise vornehmen.
4) Dieser Artikel findet auch auf die in den Art. 26 und 29 vorgesehenen Fälle Anwendung. In solchen Fällen wird der Präsident eines oder gegebenenfalls zwei der die Kammer bildenden Mitglieder des Gerichtshofs ersuchen, ihren Platz den Mitgliedern des Gerichtshofs, die Staatsangehörige der beteiligten Parteien sind, und in Ermangelung solcher oder bei Verhinderung, den von den Parteien besonders bezeichneten Richtern abzutreten.
5) Bilden verschiedene Parteien eine Streitgemeinschaft, so gelten sie, soweit die Anwendung der vorstehenden Bestimmungen in Frage kommt, nur als eine. Besteht ein Zweifel, so entscheidet der Gerichtshof.
6) Die gemäss Ziff. 2, 3 und 4 dieses Artikels bezeichneten Richter müssen die in den Art. 2, 17, Ziff.2, 20 und 24 diese Statuts aufgestellten Bedingungen erfüllen. Sie wirken beim Entscheid mit ihren Kollegen als völlig gleichberechtigt mit.
Art. 32
1) Die Mitglieder des Gerichtshofes erhalten eine Jahresbesoldung.
2) Der Präsident erhält eine besondere jährliche Zulage.
3) Der Vizepräsident erhält eine besondere Zulage für jeden Tag, wo er das Amt des Präsidenten ausübt.
4) Die in Anwendung von Art. 31 bezeichneten Richter, die nicht Mitglieder des Gerichtshofs sind, erhalten eine Entschädigung für jeden Tag, wo sie ihr Amt ausüben.
5) Diese Besoldungen, Zulagen und Entschädigungen werden von der Generalversammlung festgesetzt. Sie können während der Amtsdauer nicht herabgesetzt werden.
6) Die Besoldung des Gerichtsschreibers wird von der Generalversammlung auf Antrag des Gerichtshofs festgesetzt.
7) Ein Reglement, das der Genehmigung der Generalversammlung bedarf, setzt die Bedingungen fest, unter denen den Mitgliedern des Gerichtshofs und dem Gerichtsschreiber Ruhegehälter ausgerichtet werden, sowie die Bedingungen, unter denen den Mitgliedern des Gerichtshofs und dem Gerichtsschreiber die Reisekosten vergütet werden.
8) Die Besoldungen, Zulagen und Entschädigungen sind von jeder Steuer befreit.
Art. 33
Die Kosten des Gerichtshofs werden von den Vereinigten Nationen in einer durch die Generalversammlung zu bestimmenden Weise getragen.
Kapitel II
Zuständigkeit des Gerichtshofs
Art. 34
1) Die Staaten allein sind berechtigt, an den Gerichtshof zu gelangen.
2) Der Gerichtshof kann, unter den in seinem Reglement vorgesehenen Bedingungen, von den öffentlich-rechtlichen internationalen Organisationen Auskünfte über die vor ihn gebrachten Angelegenheiten verlangen und nimmt solche Auskünfte auch entgegen, wenn sie ihm von diesen Organisationen aus eigener Initiative erteilt werden.
3) Wenn die Auslegung des konstituierenden Aktes einer öffentlich-rechtlichen internationalen Organisation oder eines aufgrund dieses Aktes abgeschlossenen internationalen Vertrages in einer dem Gerichtshof unterbreiteten Angelegenheit in Frage steht, so benachrichtigt der Gerichtsschreiber die betreffende Organisation hievon und übermittelt ihr die Protokolle des gesamten schriftlichen Verfahrens.
Art. 35
1) Der Gerichtshof steht den Staaten, die Teilnehmer an diesem Statut sind, offen.
2) Die Bedingungen, unter denen er den übrigen Staaten offen steht, werden, unter Vorbehalt der besonderen Bestimmungen der bestehenden Verträge, vom Sicherheitsrat festgesetzt, und zwar so, dass unter keinen Umständen für die Parteien Ungleichheiten daraus entstehen dürfen.
3) Tritt in einer Angelegenheit ein Staat als Partei auf, der nicht Mitglied der Vereinigten Nationen ist, so setzt der Gerichtshof den von dieser Partei an die Kosten des Gerichtshofs zu entrichtenden Beitrag fest. Diese Bestimmung findet indessen nicht Anwendung, wenn jener Staat die Ausgaben des Gerichtshofs bestreiten hilft.
Art. 36
1) Die Zuständigkeit des Gerichtshofs erstreckt sich auf alle Angelegenheiten, die die Parteien ihm unterbreiten, sowie auf alle Fälle, die in der Satzung der Vereinigten Nationen oder in den bestehenden Verträgen und Übereinkommen besonders vorgesehen sind.
2) Die Teilnehmer am vorliegenden Statut können jederzeit erklären, dass sie von Rechts wegen und ohne besonderes Abkommen gegenüber jedem in gleicher Weise sich verpflichtenden Staat die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs in allen nachfolgenden Arten von Streitigkeiten rechtlicher Natur als obligatorisch anerkennen:
a) die Auslegung eines Staatsvertrags;
b) irgendwelche Fragen des internationalen Rechts;
c) die Existenz einer Tatsache, die, wenn sie bewiesen wäre, der Verletzung einer internationalen Verpflichtung gleichkommen würde;
d) die Art oder der Umfang einer wegen Verletzung einer internationalen Verpflichtung geschuldeten Wiedergutmachung.
3) Die vorgenannten Erklärungen können unbeschränkt oder unter Vorbehalt einer entsprechenden Verpflichtung mehrerer oder gewisser Staaten oder auch für eine bestimmte Frist abgegeben werden.
4) Diese Erklärungen werden dem Generalsekretär der Vereinigten Nationen übergeben, der den Teilnehmern am vorliegenden Statut und dem Gerichtsschreiber eine Kopie zustellt.
5) Die in Anwendung von Art. 36 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs für eine Frist, die noch nicht abgelaufen ist, abgegebenen Erklärungen gelten in den Beziehungen der Teilnehmer am vorliegenden Statut als Annahme der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs für die Dauer der noch nicht abgelaufenen Frist und im Rahmen ihrer Bedingungen.
6) Ist die Zuständigkeit des Gerichtshofs bestritten, so entscheidet der Gerichtshof über diese Frage.
Art. 37
Ist in einem bestehenden Vertrag oder in einer bestehenden Übereinkunft die Überweisung an ein vom Völkerbund zu errichtendes Gericht oder an den Ständigen Internationalen Gerichtshof vorgesehen, so bildet zwischen den Teilnehmern am vorliegenden Statut der Internationalen Gerichtshof dieses Gericht.
Art. 38
1) Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach Völkerrecht zu entscheiden, wendet an:
a) die internationalen Übereinkünfte, allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Parteien ausdrücklich anerkannte Normen aufgestellt worden sind;
b) das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung;
c) die allgemeinen, von den Kulturstaaten anerkannten Rechtsgrundsätze;
d) unter Vorbehalt der Bestimmung des Art. 59, die gerichtlichen Entscheide und die Lehren der anerkanntesten Autoren der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung der Rechtsnormen.
2) Durch diese Bestimmung wird die Befugnis des Gerichtshofs, mit Zustimmung der Parteien ex aequo et bono zu entscheiden, nicht beeinträchtigt.
Kapitel III
Verfahren
Art. 39
1) Die amtlichen Sprachen des Gerichtshofs sind das Französische und das Englische. Sind die Parteien damit einverstanden, dass das ganze Verfahren in französischer Sprache durchgeführt werde, so wird das Urteil in dieser Sprache gefällt. Stimmen die Parteien darin überein, dass das ganze Verfahren in englischer Sprache durchgeführt werden soll, so wird das Urteil in dieser Sprache gefällt.
2) In Ermangelung einer Vereinbarung über die anzuwendende Sprache können die Parteien für die Parteivorträge von den beiden Sprachen diejenige gebrauchen, der sie den Vorzug geben; der Gerichtshof wird dann seinen Entscheid in französischer und englischer Sprache treffen. In diesem Fall bestimmt der Gerichtshof gleichzeitig, welcher von den beiden Texten massgebend ist.
3) Auf Ansuchen irgendeiner Partei gestattet der Gerichtshof den Gebrauch einer andern Sprache als der französischen oder englischen durch die betreffende Partei.
Art. 40
1) Je nach dem Einzelfall massgebenden Recht werden die Streitigkeiten beim Gerichtshof entweder durch Notifikation der Schiedsordnung oder durch eine Klageerhebung anhängig gemacht, die beide dem Gerichtsschreiber einzureichen sind; in beiden Fällen müssen der Streitgegenstand und die streitenden Parteien bezeichnet werden.
2) Der Gerichtsschreiber teilt die Eingabe sofort allen Beteiligten mit.
3) Er gibt auch den Mitgliedern der Vereinigten Nationen durch Vermittlung des Generalsekretärs davon Kenntnis, desgleichen den andern zum Gerichtshof zugelassenen Staaten.
Art. 41
1) Der Gerichtshof ist befugt, sofern es seines Erachtens die Umstände erfordern, diejenigen vorsorglichen Massnahmen zu bezeichnen, die zum Schutze der Rechte jeder Partei getroffen werden müssen.
2) Vorbehältlich des endgültigen Entscheids wird den Parteien und dem Sicherheitsrat von den vorgesehenen Massnahmen sofort Kenntnis gegeben.
Art. 42
1) Die Parteien werden durch Agenten vertreten.
2) Sie können vor dem Gerichtshof Rechtsbeistände oder Anwälte beiziehen.
3) Die Agenten, Rechtsbeistände und Anwälte der Parteien vor dem Gerichtshof geniessen die Vorrechte und Immunitäten, die zur unabhängigen Ausübung ihrer Tätigkeit nötig sind.
Art. 43
1) Das Verfahren zerfällt in zwei Abschnitte: das schriftliche und das mündliche.
2) Das schriftliche Verfahren umfasst die Mitteilung der Schriftsätze, der Gegenberichte und, gegebenenfalls, der Repliken sowie der zur Bekräftigung vorgelegten Schriftstücke und Urkunden an die Richter und die Parteien.
3) Die Mitteilung erfolgt durch Vermittlung des Gerichtsschreibers in der vom Gerichtshof bestimmten Reihenfolge und innerhalb der von ihm festgesetzten Fristen.
4) Jedes von einer der Parteien vorgelegte Schriftstück ist der andern Partei in beglaubigter Abschrift zuzustellen.
5) Das mündliche Verfahren besteht in der Anhörung der Zeugen, Sachverständigen, Agenten, Rechtsbeistände und Anwälte durch den Gerichtshof.
Art. 44
1) Für alle Zustellungen an andere Personen als die Agenten, Rechtsbeistände und Anwälte wendet sich der Gerichtshof unmittelbar an die Regierung des Staates, auf dessen Gebiet die Zustellung erfolgen soll.
2) Das gleiche gilt, wenn es sich um Beweisaufnahmen an Ort und Stelle handelt.
Art. 45
Die Verhandlungen werden vom Präsidenten und, wenn dieser dazu nicht in der Lage ist, durch den Vizepräsidenten geleitet; im Falle der Verhinderung beider übernimmt der älteste anwesende Richter den Vorsitz.
Art. 46
Die Sitzung ist öffentlich, wenn nicht der Gerichtshof anders beschliesst oder beide Parteien verlangen, dass das Publikum nicht zugelassen werden soll.
Art. 47
1) Über jede Sitzung wird ein vom Gerichtsschreiber und Präsidenten unterzeichnetes Protokoll aufgenommen.
2) Dieses Protokoll allein hat amtlichen Charakter.
Art. 48
Der Gerichtshof erlässt Verfügungen betreffend die Leitung des Prozesses und die Festsetzung der Formen und der Fristen, innerhalb welcher jede Partei ihre Schlussanträge zu stellen hat; er trifft alle auf die Beweisaufnahme bezüglichen Massnahmen.
Art. 49
Der Gerichtshof kann, sogar von jeder Verhandlung, von den Agenten die Vorlegung jeder Art von Dokumenten und irgendwelche Auskunft verlangen. Im Falle der Verweigerung wird davon Vormerk genommen.
Art. 50
Der Gerichtshof kann jederzeit irgendeine Person, eine Körperschaft, ein Bureau, eine Kommission oder ein anderes Organ, deren Wahl ihm freisteht, mit der Vornahme einer Untersuchung oder einer Expertise beauftragen.
Art. 51
Während der Verhandlungen werden den Zeugen und den Sachverständigen alle angebracht scheinenden Fragen unter den Bedingungen vorgelegt, die der Gerichtshof in dem in Art. 30 vorgesehenen Reglement festsetzt.
Art. 52
Nachdem der Gerichtshof innerhalb der von ihm festgesetzten Fristen die Beweismittel und Zeugenaussagen erhalten hat, kann er alle neuen Aussagen oder Urkunden zurückweisen, die ihm eine der Parteien ohne die Zustimmung der andern vorlegen möchte.
Art. 53
1) Erscheint eine der Parteien nicht oder verzichtet sie darauf, ihre Rechtsmittel geltend zu machen, so kann die andere Partei vom Gerichtshof verlangen, dass er im Sinne ihrer Schlussanträge entscheide.
2) Bevor er diesem Begehren entspricht, muss sich der Gerichtshof nicht nur vergewissern, dass er gemäss Art. 36 und 37 zuständig sei, sondern auch, dass die Schlussanträge in tatsächlicher und in rechtlicher Beziehung begründet sind.
Art. 54
1) Nachdem die Agenten, Rechtsbeistände und Anwälte unter der Kontrolle des Gerichtshofs alle ihnen nützlich erscheinenden Rechtsmittel geltend gemacht haben, erklärt der Präsident den Schluss der Verhandlungen.
2) Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück.
3) Die Beratungen des Gerichtshofs sind und bleiben geheim.
Art. 55
1) Die Beschlüsse des Gerichtshofs werden mit Stimmenmehrheit der anwesenden Richter gefasst.
2) Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Präsidenten oder desjenigen, der ihn ersetzt.
Art. 56
1) Der Entscheid ist zu begründen.
2) Er erwähnt die Namen der Richter, die daran teilgenommen haben.
Art. 57
Ist der Entscheid in seiner Gesamtheit oder zum Teil nicht der Ausdruck der einstimmigen Meinung der Richter, so ist jeder Richter berechtigt, dem Entscheid die Darlegung seiner persönlichen Meinung beizufügen.
Art. 58
Der Entscheid wird vom Präsidenten und vom Gerichtsschreiber unterzeichnet. Er wird, nach in gehöriger Form erfolgter Anzeige an die Agenten, in öffentlicher Sitzung eröffnet.
Art. 59
Der Entscheid des Gerichtshofs ist nur für die streitenden Parteien verbindlich, und zwar nur für den Fall, über den entschieden worden ist.
Art. 60
Der Entscheid ist endgültig; Berufung ist ausgeschlossen. Bei Meinungsverschiedenheiten über den Sinn oder die Tragweite des Entscheides steht dem Gerichtshof auf Ansuchen irgendeiner Partei das Recht zu, ihn auszulegen.
Art. 61
1) Ein Gesuch um Revision des Entscheids kann beim Gerichtshof nur aufgrund der Entdeckung einer Tatsache gestellt werden, die geeignet wäre, einen entscheidenden Einfluss auszuüben, und die vor dem Erlass des Entscheids sowohl dem Gerichtshof als der Partei, welche die Revision verlangt, ohne dass der letzteren in dieser Hinsicht ein Verschulden zur Last gelegt werden kann, unbekannt war.
2) Das Revisionsverfahren wird durch einen Entscheid des Gerichtshofs eröffnet, der das Vorhandensein der neuen Tatsache ausdrücklich feststellt, ihr die zur Eröffnung des Revisionsverfahrens Anlass gebenden Merkmale zuerkennt und dementsprechend das Begehren als zulässig erklärt.
3) Der Gerichtshof kann die Eröffnung des Revisionsverfahrens von der vorangehenden Vollziehung des Entscheids abhängig machen.
4) Das Revisionsbegehren muss spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Entdeckung der neuen Tatsache gestellt werden.
5) Nach Ablauf einer Frist von zehn Jahren, vom Tage des Entscheids an gerechnet, kann kein Revisionsbegehren mehr gestellt werden.
Art. 62
1) Ist ein Staat der Meinung, dass in einer Streitigkeit ein Interesse rechtlicher Natur für ihn in Frage kommt, so kann er das Gesuch an den Gerichtshof stellen, zur Intervention ermächtigt werden.
2) Der Gerichtshof trifft den Entscheid.
Art. 63
1) Handelt es sich um die Auslegung eines Vertrags, an dem andere Staaten als die im Streite liegenden teilgenommen haben, so gibt der Gerichtsschreiber ihnen unverzüglich Kenntnis von der Angelegenheit.
2) Jeder dieser Staaten ist befugt, am Prozess teilzunehmen. Wenn einer von diesem Recht Gebrauch macht, so gilt die im Urteil enthaltene Auslegung als für denselben ebenfalls verbindlich.
Art. 64
Wenn der Gerichtshof nicht anders beschliesst, trägt jede Partei ihre Prozesskosten.
Kapitel IV
Gutachten
Art. 65
1) Der Gerichtshof kann über jede Rechtsfrage ein Gutachten abgeben, und zwar auf Antrag jedes Organs oder jeder Organisation, die durch die Satzung der Vereinigten Nationen oder gemäss deren Bestimmungen ermächtigt wird, ein solches Gutachten einzuholen.
2) Die Fragen, über die vom Gerichtshof ein Gutachten eingeholt wird, werden ihm in einem schriftlichen Begehren dargelegt, das die Frage, über die das Gutachten des Gerichtshofes eingeholt wird, klar und deutlich zum Ausdruck bringt und dem alle Schriftstücke beigefügt sind, die der Abklärung der Frage dienlich sein können.
Art. 66
1) Der Gerichtsschreiber gibt vom Begehren, mit dem das Gutachten eingeholt wird, unverzüglich allen zum Gerichtshof zugelassenen Staaten Kenntnis.
2) Alle zum Gerichtshof zugelassenen Staaten und jede internationale Organisation, die nach der Ansicht des Gerichtshofs oder, wenn er nicht tagt, nach der seines Präsidenten über die Frage Aufschluss geben können, werden ausserdem vom Gerichtsschreiber durch besondere und direkte Mitteilung davon in Kenntnis gesetzt, dass der Gerichtshof bereit ist, ihre Exposés entgegenzunehmen, entweder schriftlich binnen einer vom Präsidenten festgesetzten Frist oder mündlich in einer zu diesem Zwecke anberaumten öffentlichen Sitzung.
3) Falls einer dieser Staaten, der die besondere, in Ziff. 2 dieses Artikels vorgesehene Mitteilung nicht erhalten hat, den Wunsch äussert, ein schriftliches Exposé einzureichen oder gehört zu werden, so entscheidet der Gerichtshof.
4) Die Staaten oder Organisationen, die schriftliche oder mündliche Exposés vorgebracht haben, sind berechtigt, zu den Exposés der andern Staaten und Organisationen in der Form, im Umfang und binnen der Fristen Stellung zu nehmen, die der Gerichtshof oder, wenn er nicht tagt, sein Präsident in jedem einzelnen Fall festsetzt. Zu diesem Zwecke teilt der Gerichtsschreiber die schriftlichen Exposés zu gegebener Zeit den Staaten oder Organisationen mit, die selber solche eingereicht haben.
Art. 67
Der Gerichtshof gibt seine Gutachten in öffentlicher Sitzung ab, nachdem der Generalsekretär und die Vertreter der Mitglieder der Vereinigten Nationen sowie der andern Staaten und internationalen Organisationen, die es unmittelbar angeht, vorher benachrichtigt worden sind.
Art. 68
In der Ausübung seiner gutachtlichen Tätigkeit wird sich der Gerichtshof ausserdem an die Bestimmungen des vorliegenden Statuts halten, die auf das Streitverfahren Anwendung finden, soweit er sie für anwendbar erachtet.
Kapitel V
Änderung des Statuts
Art. 69
Änderungen des vorliegenden Statuts erfolgen nach dem gleichen Verfahren, das für die Änderung der Satzung der Vereinigten Nationen vorgesehen ist, jedoch unter Vorbehalt der Bestimmungen, die die Generalversammlung auf Empfehlung des Sicherheitsrates annehmen könnte, um die Beteiligung derjenigen Staaten an diesem Verfahren zu regeln, die Teilnehmer am vorliegenden Statut, aber nicht Mitglieder der Vereinigten Nationen sind.
Art. 70
Der Gerichtshof kann die Änderungen des vorliegenden Statuts, die er als notwendig erachtet, auf dem Wege einer schriftlichen Mitteilung an den Generalsektretär vorschlagen, damit sie nach den Bestimmungen von Art. 69 geprüft werden.